Auf einmal ist man ein Genie

Von Jörg Albrecht

Helm auf, Strom an - schon geht alles wie von selbst. Was ist dran an der transkraniellen Magnetstimulation?

Die Untersuchung ist kurz, die Fragen sind reine Routine. Nein, ich trage keinen Herzschrittmacher. Bisher hatte ich noch keine epileptischen Anfälle. Und meine Zahnfüllungen stören auch nicht. Höchstens das Handy, das jetzt ausgeschaltet wird. "Dann wollen wir mal", sagt Ulf Ziemann und bittet auf den Untersuchungsstuhl.

Hunderte von Freiwilligen haben hier vor mir Platz genommen, das weiße Kunstleder ist etwas ramponiert. Ziemann, leitender Oberarzt für Neurologie am Frankfurter Universitätsklinikum, hält mir eine Magnetspule an den Kopf und richtet sie auf einen bestimmten Punkt, der irgendwo über dem linken Scheitelbein liegen muss. Es klickt, ich spüre einen winzigen Schlag, der sich schwer beschreiben lässt - als ob jemand direkt auf der Kopfhaut ein elektrisches Feuerzeug gezündet hätte.

"Einen Moment", sagt Ziemann, "das haben wir gleich." Eine winzige Korrektur, wieder ein Klick, und mein rechter Zeigefinger zuckt. Die nächste Korrektur, der nächste Klick, der Mittelfinger macht sich selbständig. Das Gleiche mit dem Ring- und dem kleinen Finger. "Das war doch nicht unangenehm?", will der Neurologe wissen. Nein. Aber angenehm auch nicht.

Als wenn ein Blitz in den Computer schlägt

Vor allem deshalb nicht, weil ich einiges über den Effekt gelesen habe. Bei der "transkraniellen Magnetstimulation" (TMS) wird ein kurzer Magnetimpuls durch die knöcherne Schädeldecke (lat. Cranium) hindurch in die Großhirnrinde (lat. Cortex) geschickt. Dort ruft er einen Stromstoß hervor, der von den Nervenzellen aufgenommen und weitergeleitet wird. Wird dabei, wie in meinem Fall, ein bestimmter Bereich des motorischen Cortex stimuliert, zucken eben die Finger. Wäre es der visuelle Cortex gewesen, hätte ich vielleicht Lichterscheinungen wahrgenommen.

Der Puls hat weniger als eine tausendstel Sekunde gedauert, die Stärke betrug etwa 0,7 Tesla, also rund das Zwanzigtausendfache des Erdmagnetfeldes oder, weniger spektakulär, das Fünfzigfache eines Magnethalters, mit dem man einen Zettel an die Kühlschranktür heftet. Was das im Einzelnen im Hirn anrichtet, weiß man nicht. Man sieht nur die Reaktion, die sich als "motorisch evoziertes Potential" messen lässt. Alles Übrige ist ungefähr so spezifisch, wie wenn ein schwacher Blitz in den Computer schlägt.

Wissenschaftler und Journalisten haben dem Magneteffekt in den vergangenen Jahren schon Wirkungen zugeschrieben, die ins Phantastische reichen. Der Australier Allan Snyder, Direktor des "Centre for the Mind" an der University of Sydney, ist fest davon überzeugt, dass man mit Hilfe wiederholter Magnetstöße jeden Menschen, wenn auch vielleicht nur vorübergehend, in ein Genie verwandeln kann.

Absolutes Gehör, Foto-Gedächtnis - alles soll möglich sein

Das absolute Gehör, ein fotografisches Gedächtnis, überragendes Zeichentalent, phänomenales Rechenvermögen - das alles schlummert in jedem von uns, glaubt Snyder. Es sei nur verschüttet. Begraben unter dem, was uns emotional wichtiger erscheint, etwa dem eigenen Hochzeitsdatum oder Melodien, die uns an sentimentale Stunden erinnern. Schuld sei eine Kontrollinstanz im Gehirn, die uns ein Übermaß an Eindrücken vergessen lasse. Wenn man diese Instanz unterdrücken könnte, würden Fähigkeiten in uns erwachen, die man sonst nur von manchen Autisten und von "idiot savants", also schwachsinnigen Wissenden, kennt.

Von Snyders einschlägigen Experimenten lässt sich bislang nur eines nachvollziehen, das er in der Zeitschrift Perception vorgestellt hat. Zwölf Studenten wurden jeweils 15 Minuten lang mit einer Frequenz von einem Hertz stimuliert. Das heißt, sie erhielten insgesamt 900 Magnetimpulse, und zwar im Bereich des vorderen linken Schläfenlappens, der unter anderem für bestimmte Gedächtnisfunktionen zuständig ist. Allan Snyder vermutet hier das verhinderte Genie.

Vor dieser Prozedur wurden seinen Kandidaten zwanzig verschiedene Diagramme vorgelegt, die zwischen fünfzig und einhundertfünfzig gleichartige Bildelemente zeigten; die Zeit war zu kurz, um sie zählen zu können. In durchschnittlich drei Fällen konnten die Probanden die Zahl dieser Elemente bis auf plus/minus fünf korrekt schätzen. Unmittelbar nach der Stimulation lagen sie fünfmal richtig, eine Stunde danach noch knapp viermal.

So hätten, schreibt Allan Snyder, die Studenten vorübergehend einen Teil jener Inselbegabung entwickelt, die der Bestsellerautor Oliver Sacks einmal an einem Paar autistischer Zwillinge beobachtet hatte. Die beiden waren imstande, die exakte Zahl von Streichhölzern zu raten, die vor ihnen zu Boden fielen. Unisono riefen sie "111", wenn das der Fall war, und irrten angeblich nie.

Starkstrom im Hirn: Keine gute Idee

Nun gibt es in der klinischen Psychologie immer wieder die erstaunlichsten Fallbeispiele. Studien, die in einem größeren Rahmen klare Ergebnisse liefern, sind schon seltener. Das trifft auch für die Wirkungen von Magnetfeldern auf das Nervenkostüm zu - umso mehr, als sie erst seit knapp dreißig Jahren systematisch erforscht werden. Der französische Physiker Jacques-Arsène d'Arsonval hatte zwar Ende des 19. Jahrhunderts nachgewiesen, dass ein sich veränderndes Magnetfeld in menschlichen Geweben einen Stromfluss induziert. Als er und andere Versuchsteilnehmer sich Starkstromspulen über den Kopf stülpten, nahmen sie lebhafte Phosphene wahr - blitzartige Erscheinungen, die unter anderem durch Halluzinationen oder mechanischen Druck auf die Netzhaut hervorgerufen werden.

Die verabreichte Dosis war so hoch, dass es zu Kreislaufstörungen und Schwindel bis zur Bewusstlosigkeit kam. Das Forschungsgebiet geriet in Vergessenheit, wenn man einmal davon absieht, dass sich die beiden Psychiater Berthold Beer und Adrian Pollacsek 1903 ein Patent für die Behandlung einzelner Körperteile mittels "magnetischer Massage" sicherten (Patentnummer AT15797).

Erst nachdem der britische Ingenieur Anthony Barker 1985 in der Zeitschrift Lancet eine schonendere Methode vorgestellt hatte, mit der er einzelne Hirnareale punktgenau und vor allem schmerzfrei stimulieren konnte, kam das Verfahren in der klinischen Forschung wieder zum Einsatz. Nicht nur zu diagnostischen, sondern auch zu therapeutischen Zwecken. Unter anderem geht es um die Frage, of die Magnetstimulation möglicherweise gegen Depressionen hilft.

Helfen Magnetfelder wenigstens gegen Depressionen?

Letzteres geht auf eine Überlegung des Psychiaters Mark George von der University of South Carolina in Charleston zurück. Wenn man mit Hilfe eines magnetisch ausgelösten Stromimpulses Muskeln zum Zucken bringen kann, dachte er, dann lassen sich vielleicht auch Stimmungen beeinflussen. "Immerhin ist das Hirn ein elektrisches Organ", sagt er. "Trotzdem hielten mich alle für verrückt. Ich musste meine Versuche morgens um sechs Uhr durchführen, ehe meine Kollegen zur Arbeit kamen."

George rekrutierte sechs Patienten des National Institute of Mental Health, die an schweren Depressionen litten und auf Medikamente nicht mehr ansprachen. Experimente hatten zuvor gezeigt, dass sich mit ganzen Serien kurz hintereinander geschalteter Impulse nicht nur Muskelkontraktionen, sondern noch ganz andere Phänomene hervorrufen ließen.

Der Neurologe Alvaro Pascual-Leone hatte mit Hilfe dieser repetitiven Magnetstimulation (rTMS) das Sprachzentrum blockiert. Einige seiner Probanden waren bis zu dreißig Minuten lang wie gelähmt, begannen zu weinen und berichteten über Kopfschmerzen, einer von ihnen erlitt später einen epileptischen Anfall. Wurde die Frequenz der Magnetstöße erhöht, zeigten sich umgekehrt Stimmungsaufhellungen bis hin zur Hypomanie.

Offenbar war es für eine gewisse Zeit möglich, die Aktivität der Neuronen des Gehirns zu hemmen oder zu erhöhen: Eine "long-term depression" wurde bei Frequenzen von ungefähr einem Hertz ausgelöst, eine "long-term potentiation" bei fünf Hertz und mehr.

Mark George nahm sich nun den linken präfrontalen Cortex vor. Dort hatte man bei tomographischen Aufnahmen eine verminderte Hirnaktivität während depressiver Phasen gefunden. George verordnete seinen Patienten mindestens eine Woche lang jeden Morgen zwanzig Minuten Magnetbehandlung, und zwar bei zwanzig Hertz und mit achtzig Prozent der Feldstärke, die gerade noch ein Fingerzucken hervorgerufen hätte. Zwei Patienten reagierten überhaupt nicht auf die Behandlung, zwei zeigten leichte und zwei deutliche Verbesserungen ihres Zustandes, beurteilt anhand der international gebräuchlichen Hamilton-Skala zur Feststellung der Schwere einer Depression.

Besonders eindrucksvoll war der Fortschritt bei einer 47-jährigen Frau, die bereits fünf Klinikaufenthalte und einen Suizidversuch hinter sich hatte und vergeblich mit zehn verschiedenen Antidepressiva sowie Elektroschocks behandelt worden war. Nach zehn Tagen fühlte sie sich erheblich besser, musste die Therapie dann wegen einer Operation aussetzen und begann zwei Monate später erneut. Am Ende fand sie ihren Seelenfrieden nahezu vollständig wieder. Eine vorbeugende Behandlung mit Medikamenten schloss sich an.

Oder ist es nur ein Placebo-Effekt?

Kritiker haben eingewandt, dass die TMS-Methode auch auf einem Placeboeffekt beruhen kann. Allein die Tatsache, dass Ärzte dem Patienten so viel Aufmerksamkeit widmen, während er von beeindruckenden Apparaturen umgeben ist, kann eine Heilung herbeiführen. Dass sich im Gehirn seiner Patientin tatsächlich etwas tat, konnte George mit Hilfe der Positronen-Elektronen-Tomographie demonstrieren. Dabei nahm der Glucoseverbrauch im Gehirn, der vorher abnorm niedrig gelegen hatte, deutlich zu, und das auch an Stellen, die gar nicht stimuliert worden waren.

Hatte Mark George tatsächlich einen neuen Weg gefunden, den "schwarzen Hund" zu besiegen, wie Winston Churchill seine wiederkehrenden Depressionen einmal benannt hat? "Leider können wir mit dieser Technik bislang nur Hirnregionen direkt unter der Schädeldecke erreichen", sagt der Psychiater; mit der räumlichen Entfernung von der Induktionsspule nimmt die magnetische Feldstärke rasch ab, die maximale Reichweite im Hirngewebe liegt bei zwei bis drei Zentimetern. Aber dass sich der Impuls fortpflanzt und ganze Kaskaden von Nervenerregungen auslösen kann, liegt in der Natur der Sache: Schließlich handelt es sich bei der Weiterleitung von Nervenreizen um ein elektrisches Phänomen.

Ulf Ziemann und seine Arbeitsgruppe an der Frankfurter Universitätsklinik haben gezeigt, wie ein Reiz, der in der linken Hälfte der Großhirnrinde gesetzt wird, sich auf die rechte Hälfte auswirkt. Wird zum Beispiel ein bestimmter Teil des linken motorischen Cortex aktiviert, sinkt die Erregbarkeit derselben Region auf der gegenüberliegenden Seite - und umgekehrt. "Das ist auch notwendig", sagt Ziemanns Mitarbeiter Mathias Wahl, "weil wir sonst automatisch Spiegelbewegungen machen würden." Die Reizübertragung findet im Corpus callosum statt, einer balkenartigen Verbindung aus Nervenfasern. Dort sind die beweglichen Körperglieder wie Finger, Beine oder Zunge räumlich genauso repräsentiert wie im Cortex selbst..

Für die Behandlung von Depressionen könnte daraus folgen, dass man ebenso gut die rechte präfrontale Hirnrinde unterdrücken wie ihr linkes Pendant aktivieren könnte. Beides hat man versucht. Mit welchem Ergebnis? Die australischen Psychiater Philip Mitchell und Colleen Loo haben zwei Dutzend Studien mit insgesamt rund tausend Patienten unter die Lupe genommen und kommen zu dem betrüblichen Schluss, der klinische Nutzen sei in den meisten Fällen "marginal" gewesen. Auch sei nirgends festgelegt, wo, wie lange und mit welcher Frequenz das depressive Hirn behandelt werden müsse. "Im Nachhinein war es wahrscheinlich nicht sehr klug, die Magnetstimulation ausgerechnet am Krankheitsbild der Depression auszuprobieren", bestätigt ihr Landsmann Michael Ridding.

Auch Mark George hat sich mittlerweile einem anderen Gebiet zugewandt. Finanziell unterstützt von der Defense Advanced Research Projects Agency, einer Forschungsbehörde des amerikanischen Verteidigungsministeriums, hat er untersucht, ob TMS vielleicht die Schlafdefizite ausgleichen kann, unter denen beispielsweise Kampfpiloten leiden. Hohe Dosen, verabreicht über den parietalen Cortex, hätten einen gewissen Effekt gehabt, sagt er: "Allerdings war er nicht besonders groß, weniger, als eine Tasse Kaffee oder dreißig Minuten Schlaf ausrichten würden." Als Spin-off kam immerhin ein tragbarer TMS-Helm heraus.

Die Motorik wird am ehesten gefördert

Die besten Ergebnisse zeigt die Magnetstimulation bislang bei der Behandlung von Schlaganfallpatienten. "Die sind unsere natürliche Zielgruppe", sagt Ulf Ziemann. Nach einem Schlaganfall geht es vor allem um die Wiedererlangung von motorischen Fähigkeiten. Der Mechanismus ist einigermaßen klar: Der Ausfall der betroffenen Hirnareale kann durch Aktivierung anderer Regionen kompensiert werden. Diese Plastizität des Gehirns wird während der Rehabilitationsphase gefördert; gezielte Behandlung mit Magnetimpulsen könnte eines Tages genauso zur Therapie gehören wie sportmedizinisches Training. Parkinsonpatienten oder Muskelkranke können ebenfalls hoffen. Wo es um motorisches Lernen geht, verspricht die Magnettherapie am meisten.

Daran schließt sich logischerweise die eingangs gestellte Frage an, ob auch Gesunde von der Methode profitieren könnten. Auch an ihnen lassen sich bei bestimmten Versuchsanordnungen motorische Fortschritte beobachten, etwa beim Erlernen neuer Fingerfertigkeiten. Das reicht zwar noch nicht, um aus einem Klavierschüler einen Rachmaninow zu machen, zeigt aber, dass es prinzipiell funktioniert. Von einer Steigerung der Tastgenauigkeit, also einer Verbesserung im sensorischen Bereich, wurde ebenfalls schon berichtet.

Die Behandlung von kognitiven Störungen wäre das nächste Ziel. Ausprobiert haben Forscher die Technik bereits bei Zwangsstörungen, Schizophrenie, Gedächtnisverlust sowie Sucht- und Risikoverhalten. Die Ergebnisse waren widersprüchlich. Konkreteren Nutzen verspricht die Magnetstimulation bei der Entwicklung von Neuropharmaka. Weil sich nach einem Magnetimpuls charakteristische Kenngrößen wie die Reizschwelle oder die Hemmung von Neuronen bestimmen lassen, steht damit auch eine quantitative Messmethode zur Verfügung.

Setzt man Freiwilligen beispielsweise im Abstand von wenigen Millisekunden einen magnetischen Doppelimpuls, verringert sich für kurze Zeit die Erregbarkeit ihrer Großhirnrinde. Verabreicht man ihnen zuvor zum Beispiel ein Beruhigungsmittel wie Lorazepam, verstärkt sich dieser Effekt. Auf diese Weise hat man eine ganze Palette von neurologisch wirksamen Stoffen unter die Lupe genommen.

Und trotzdem bessere Laune

Letzte Frage: Was ist nun mit dem Genie in uns? Lässt es sich durch transkranielle Magnetstimulation hervorlocken? Hat Doc Snyder am Ende doch recht? "Auf der ganzen Welt hat das niemand außer ihm beobachtet", sagt Mark George, der nun wirklich nicht zu den Pessimisten auf dem Gebiet der Magnetstimulation zählt. "Sonst müssten ja auch manche Patienten, die einen Schlaganfall erlitten haben, zu Genies werden." Also nicht?

Nachbemerkung: Eine Woche nach meinem bescheidenen Selbstversuch habe ich plötzlich bessere Laune. Die Arbeit geht leichter von der Hand, obwohl draußen tristes Novembergrau herrscht. Ich habe inzwischen alles über TMS gelesen, was ich in die Finger bekommen konnte. Wenn ich jetzt noch einmal zu Ulf Ziemann ginge? Und mir eine weitere Dosis Magnetkicks verpassen ließe? Um endlich meinen halbfertigen Roman zu Ende zu schreiben? "Wenn so jemand zu mir kommen würde - den würde ich nicht behandeln", hat Ziemann gesagt. Er wird schon wissen, warum.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 25.November 2008

Ausgezeichnet mit dem Georg von Holtzbrinck-Preis für Wissenschaftsjournalismus 2009